Wer kennt ihn nicht, den „Osterspaziergang“ Goethes. Ich kann ihn fast noch auswendig vortragen, sehe mich als kleines Mädchen vor meiner damaligen Klasse stehen und das vorm Spiegel einstudierte Gedicht performen. Denn Gedichte vortragen und Geschichten erzählen, das habe ich schon immer sehr gern getan.

Es geht um den Rückzug des Winters und die neu erwachende Lebendigkeit und Lebenslust. Vom Aufbruch der Menschen aus der Dunkelheit, von ihrem Streben ins Licht. Das können wir doch gerade alle ganz gut gebrauchen? Die Frühlingssonne und die erwachende Natur stehen für einen Neubeginn. Wenn ich aus meinem Bürofenster schaue blicke ich auf drei Sträucher, welche gerade förmlich in weiß, rosa und gelber Farbe explodieren, wie schön! Vogelgezwitscher mischt sich darunter.

Wir wünschen Ihnen allen ein schönes, friedvolles Osterfest 2022. Ihr FritzGlock Team.

Osterspaziergang

Vom Eise befreit sind Strom und Bäche
Durch des Frühlings holden, belebenden Blick,
Im Tale grünet Hoffnungsglück;
Der alte Winter, in seiner Schwäche,
Zog sich in rauhe Berge zurück.
Von dort her sendet er, fliehend, nur
Ohnmächtige Schauer körnigen Eises
In Streifen über die grünende Flur.
Aber die Sonne duldet kein Weißes,
Überall regt sich Bildung und Streben,
Alles will sie mit Farben beleben;
Doch an Blumen fehlts im Revier,
Sie nimmt geputzte Menschen dafür.
Kehre dich um, von diesen Höhen
Nach der Stadt zurück zu sehen!
Aus dem hohlen finstern Tor
Dringt ein buntes Gewimmel hervor.
Jeder sonnt sich heute so gern.
Sie feiern die Auferstehung des Herrn,
Denn sie sind selber auferstanden:
Aus niedriger Häuser dumpfen Gemächern,
Aus Handwerks- und Gewerbesbanden,
Aus dem Druck von Giebeln und Dächern,
Aus der Straßen quetschender Enge,
Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht
Sind sie alle ans Licht gebracht.
Sieh nur, sieh! wie behend sich die Menge
Durch die Gärten und Felder zerschlägt,
Wie der Fluß in Breit und Länge
So manchen lustigen Nachen bewegt,
Und, bis zum Sinken überladen,
Entfernt sich dieser letzte Kahn.
Selbst von des Berges fernen Pfaden
Blinken uns farbige Kleider an.
Ich höre schon des Dorfs Get&uuuuml;mmel,
Hier ist des Volkes wahrer Himmel,
Zufrieden jauchzet groß und klein:
Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein!

 

(Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, Vor dem Tor)

 

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